Der Satiriker und Politiker Nico Semsrott trat den "merkwürdigsten Job der Welt", wie er sagt, als Idealist an. Damit sei er krachend gescheitert. Trotz aller Skandale sei die EU aber mit Abstand das beste Demokratieexperiment der Welt, sagt Semsrott. Warum er als Satiriker im EU-Parlament in der Politik aber fehl am Platz war und warum seine Kunstfigur des depressiven "Demotivationstrainers" im Plenarsaal nicht ernst genommen wurde, erklärt er im Interview.

Nico Semsrott in seiner aktuellen Arbeitsumgebung. Ein Ende ist in Sicht.
Rowohlt

STANDARD: Ihre Kunstfigur stellt sich oft als "Demotivationstrainer" vor. Waren Sie das auch als Vertreter Ihrer Wählerinnen und Wähler in Brüssel, ein "Demotivationstrainer"?

Semsrott: Im Plenarsaal selbst war ich nur diese Kunstfigur, ich habe immer mit Kapuze abgestimmt. Aber ich muss zugeben, dass meine Kunst in diesem Kontext nicht richtig funktioniert hat. Das ist hier was anderes als auf einer freien Satirebühne. Hier bin ich gleichzeitig auch Politiker, und da gibt es einen gewissen Anpassungsdruck. Mein Fehler war, anzunehmen, dass ich auch etwas bewirken kann mit meiner Satire. Ich habe zahlreiche parlamentarische Anfragen gestellt, zum Beispiel zu Steuerverschwendung oder unsinnigen Privilegien der Parlamentarier, und keine Antworten bekommen.

STANDARD: Sind Sie also zu dem Schluss gekommen, dass Provokation und Satire keine Veränderung bringen und Ihr Vorhaben gescheitert ist?

Semsrott: Das würde ich pauschal so nicht sagen. Ich glaube, dass ich dafür an dieser Stelle der Falsche war. Ich lasse mich leider als Demotivationstrainer auch schnell von anderen demotivieren. Das ist mein Fehler.

STANDARD: Haben Sie nie überlegt, vorzeitig auszusteigen?

Semsrott: Oft. Ich habe auch ständig in der Therapie darüber gesprochen. Aber ich wollte mich dann doch meinen Problemen in der Situation stellen. Ein weiteres Motiv war, dass das ja hier eben kein Spiel ist. Ich habe eine staatspolitische Verantwortung und wurde von 900.000 Wählerinnen gewählt.

STANDARD: Wie Sie schon sagen, es ist ja kein Spiel, sondern ein echter Job, bezahlt mit Steuergeldern. Haben Sie denn auch etwas getan für Ihr Geld? Zum Beispiel das Wahlversprechen eingelöst, für die Jugend etwas weiterzubringen?

Semsrott: Ja und nein. Politik besteht aus sehr vielen Elementen. Ein Politiker, der versucht, Veränderungen zu erwirken, der kann das zum einen auf einer legislativen Ebene machen, also durch konkrete Gesetze. Mich wird aber niemand gewählt haben, weil er etwa davon ausging: "Der wird sich beim Renaturierungsgesetz so richtig tief reinknien."

Mein Ding war eher die Soft Power, ich habe Positionen bezogen und meine Wähler so repräsentiert. Und da habe ich von extrem vielen gehört, dass sie sich sehr gut von mir vertreten fühlen.

STANDARD: Am 9. Juni wird ja wieder gewählt. Die Wahlbeteiligung ist immer um einiges niedriger als bei nationalen Wahlen. Ist die EU zu kompliziert?

Semsrott: Auf jeden Fall! Und das hat mehrere Gründe. Zum einen liegt es in der Natur der Sache bei derart globalen Themen. Mit unseren Affenhirnen sind komplexe Rahmengesetzgebungen einfach schwer zu verstehen. Ein Stadtparlament entscheidet Dinge, die uns alle konkret betreffen. Wie teuer ist der öffentliche Nahverkehr? Wie soll dieser Platz aussehen? Soll es eine verkehrsberuhigte Zone geben? Das alles ist nachvollziehbar. Aber wie in zehn oder 15 Jahren das CO2-Ziel aussieht, ist ja gleich auf mehreren Ebenen abstrakt, da kann ich erst einmal gar kein Gefühl dafür zu bekommen.

Ein Grundproblem ist aber auch, dass das EU-Parlament viel zu wenig Macht hat. Mehr Macht bedeutet aber auch immer mehr öffentliches Interesse und gleichzeitig mehr Kontrolle. Und dadurch würde automatisch der Austausch mit der Außenwelt zunehmen. So zumindest meine These.

STANDARD: Bei der kommenden Wahl könnte es auch im EU-Parlament einen Rechtsruck geben.

Semsrott: Der Rechtsruck hat ja längst stattgefunden. Die nationalen Regierungen haben über den Europäischen Rat Einfluss auf die gesamte Europäische Union. Und wir sehen ja, wie sich rechte Politik auswirkt: Menschenrechtsabbau, Demokratieabbau, weniger Umweltschutz und letztlich mehr Ausgrenzung. Die Frage ist aber: Wollen wir so als Europäer leben? Wenn viele Menschen rechte Politik wählen, dann bedeutet das wohl, sie wollen.

STANDARD: Man sagt ja oft, die Wählerinnen und Wähler bekommen genau die Politik, die sie verdienen. Welche grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen müsste es denn Ihrer Meinung nach geben, um die Demokratie zu verbessern?

Semsrott: Die Menschen müssen mehr beteiligt werden. Ich glaube, die Gesellschaften in Europa sind weiter als die politischen Systeme. Die wollen mitentscheiden, und es muss viel mehr direktdemokratische Experimente und Ergänzungen geben. Ich will das repräsentative System auf keinen Fall abschaffen, aber ich will es ergänzen. Und das bedeutet, dass ich als Bürgerin einfach offen nachvollziehen kann, wie die Gelder verteilt werden.

Wenn ich nichts weiß, kann ich auch keine kluge Entscheidung treffen. Wie krass wäre es, wenn in 27 Ländern Debatten zum gleichen Thema stattfinden würden und sich dadurch eine europäische Öffentlichkeit entwickelt. Dass da so wenig in dieser Hinsicht ausprobiert wird, finde ich einfach blöd. Man muss auf die ganze Angst, auf den Hass mit Mut und Experimenten reagieren. Anders geht es gar nicht.

STANDARD: Das war jetzt allerdings fast schon eine Motivationsrede!

Semsrott: Ja, das fällt mir auch gerade auf. Das ist wahrscheinlich auch die Folge von den Besuchsgruppen hier im Parlament, die mir sagen: "Nico, ich will Hoffnung haben." Daher kommen wohl diese Antworten.

STANDARD: Das heißt, die EU hat für Sie auch gute Seiten?

Semsrott: Ich kritisiere die EU deshalb, weil ich sie noch besser haben will, und nicht, weil ich sie grundsätzlich falsch finde. Die EU ist mit Abstand das beste Demokratieexperiment der Welt. Wir haben hier Verbraucherschutzstandards, sauberes Wasser, saubere Luft. Das alles gibt es wegen der Europäischen Union, des Binnenmarkts und der gemeinsamen Regeln, die wir haben.

Ich würde sogar sagen, die Europäische Union ist so etwas wie die Vereinten Nationen, nur mit Macht. Hier werden Dinge entschieden, und zwar mit Beteiligung oder unter Ansage letztlich der Nationalstaaten. Es ist ja eine absolute Quatschgeschichte, wenn man "die da in Brüssel" kritisiert. Wer sind denn "die da in Brüssel"? Es sind immer die Nationalstaaten, die das Sagen haben. Und wer etwas anderes erzählt, der lügt eben.

STANDARD: Welches Fazit ziehen Sie aus den fünf Jahren im EU-Parlament in Ihrem Bühnenstück Brüssel sehen und sterben: Wie ich im Europaparlament meinen Glauben an (fast) alles verloren habe?

Semsrott: Vielleicht dieses: Der Machtmissbrauch der Mächtigen ist zwar teilweise extrem krass, wir können aber etwas dagegen tun, wenn wir uns zusammentun. Und wenn man diesen Satz jetzt kennt, dann muss man sich den Abend auch gar nicht mehr angucken. Also bitte verschweigen Sie ihn. (Manuela Honsig-Erlenburg, 24.4.2024)

Nico Semsrott vergleicht sein Kaninchen mit der AfD | "Heute-Show" vom 8.12.2017
Aus Semsrotts Leben vor der Politikerkarriere: Kann man Kaninchen mit der AfD vergleichen? Nico Semsrott tut es einfach.
ZDF Heute-Show