DB, Stuttgart, Reisende am Fahrgleis
Baustellen, Verspätungen, Ausfälle: Die Deutsche Bahn steht in der Kritik.
Foto: Imago / Arnulf Hettrich

Eine neue Debatte über die Definition von Infrastruktur deutet darauf hin, dass die westlichen Demokratien beginnen, ihre Prioritäten zu verlagern. Viele argumentieren, dass Investitionen in die traditionelle physische Infrastruktur – wie Strom-, Wasser- und Verkehrsnetze – nicht mehr ausreichen. Es gibt eine Bewegung hin zur Finanzierung von sozialer und kultureller Infrastruktur – Gemeinschaftseinrichtungen wie Bibliotheken, Schulen, Krankenhäuser und Kinderbetreuung, die früher nicht in diese Kategorie fielen. Und die wachsende Macht von Big Tech hat auch zu Diskussionen über die Notwendigkeit einer digitalen öffentlichen Infrastruktur geführt.

Der von französischen Eisenbahningenieuren Ende des 19. Jahrhunderts geprägte Begriff Infrastruktur bezieht sich auf eine komplexe Gesamtheit von Systemen, die das Funktionieren einer Gesellschaft ermöglichen. Diese Komplexität wird durch das Gewirr von Rohren und Kabeln veranschaulicht, die unter den Straßen der Stadt vergraben sind und von Zeit zu Zeit von Bautrupps freigelegt werden. Das Neue wird über das Alte gelegt: Britische Autofahrerinnen und -fahrer nutzen noch immer Straßen, die von den Römern gebaut wurden, sowie Tunnel und Brücken aus viktorianischer Zeit. Diese Langlebigkeit zeigt, dass Investitionen in die Infrastruktur zukunftsorientiert sind und sehr lange Bestand haben können.

"Es überrascht nicht, dass die Bürgerinnen und Bürger zunehmend besorgt sind über die Auswirkungen einer sich verschlechternden Infrastruktur auf ihr tägliches Leben und die Wirtschaft insgesamt."

Klar ist aber, dass die westlichen Demokratien zu wenig in den Erhalt dieser "traditionellen" Infrastrukturen investiert haben: Man denke nur an den maroden Zustand des deutschen Schienennetzes, der US-amerikanischen Brücken oder der britischen Wasserver- und Abwasserentsorgung. Es überrascht nicht, dass die Bürgerinnen und Bürger zunehmend besorgt sind über die Auswirkungen einer sich verschlechternden Infrastruktur auf ihr tägliches Leben und die Wirtschaft insgesamt.

Darüber hinaus setzt sich in der westlichen Welt zunehmend das Verständnis durch, dass Infrastruktur auch soziale und kulturelle Räume und Strukturen umfasst. Die Gründe für diese erweiterte Definition liegen auf der Hand: Öffentliche Güter und Dienstleistungen, die gesunde und gut ausgebildete Bürgerinnen und Bürger hervorbringen, sind wesentliche Bestandteile der Grundlage für unternehmerische und individuelle Aktivitäten, die das Funktionieren von Wirtschaft und Gesellschaft ermöglichen.

Öffentliches Gemeingut

In seinem 2012 erschienenen Buch über den sozialen Wert gemeinsam genutzter Resourcen nennt Brett Frischmann drei Merkmale, die Infrastrukturgüter miteinander verbinden. Erstens sind sie nicht konkurrierend in ihrer Nutzung, viele Menschen können sie gleichzeitig nutzen. Zweitens ist ihre Nachfrage derivativ – Menschen verbrauchen Strom nicht um seiner selbst willen, sondern wegen der Möglichkeiten, die er ihnen bietet. Drittens können sie als Input für eine Vielzahl anderer Aktivitäten verwendet werden.

Ich möchte noch drei weitere wesentliche Merkmale hinzufügen. Wie Frischmann feststellt, fungiert die Infrastruktur als eine Art öffentliches Gemeingut, was bedeutet, dass der Zugang zu diesen Gütern universell sein oder zumindest nicht von den persönlichen Beziehungen oder dem Status des Einzelnen abhängen sollte. Es handelt sich also um eine fortschrittliche Form der Investition, die zu einem inklusiven und nachhaltigen Wohlstand führt.

Darüber hinaus haben Infrastrukturen oft positive Spillover- oder Netzwerkeffekte, deren Vorteile sich vervielfachen, wenn die Nutzung ein ausreichendes Niveau erreicht. So stieg der wirtschaftliche Effekt von Breitbandtechnologien überproportional zur Zahl der damit versorgten Personen, als die Nutzungsdichte neue Geschäftsmodelle ermöglichte. Aber auch das Gegenteil ist der Fall: Verschlechtert sich der Zustand des Schienennetzes, wird es irgendwann unwirtschaftlich, es für den Gütertransport zu nutzen.

Neue Bedürfnisse

Aber noch wichtiger ist der lange Zeithorizont dieser Anlagen. Als der Ingenieur Joseph Bazalgette 1859 mit dem Bau des Londoner Abwassersystems begann, sorgte er dafür, dass dessen Kapazität den erwarteten Bedarf bei weitem überstieg. Dank dieser Weitsicht funktionierte das Netz mehr als 150 Jahre lang, während sich die Einwohnerzahl der Stadt auf über neun Millionen verdreifachte. Erst jetzt entschloss sich das finanziell angeschlagene Unternehmen Thames Water zum Ausbau des Systems, nachdem jahrelange Unterinvestitionen zu einem skandalösen Anstieg der Gewässerverschmutzung durch Abwasserlecks geführt hatten.

Eine Gesellschaft, die ihre Infrastruktur verfallen lässt und zu wenig in neue Bedürfnisse investiert, hat eine düstere Zukunft vor sich. Brücken und Kabel mögen unbedeutend erscheinen, aber diese Gemeingüter werden in den kommenden Jahren die Grundlage des Wirtschaftswachstums bilden, und die Länder, die in sie investieren, schaffen die Voraussetzungen, die für ihr Gedeihen nötig sind. Während die Diskussion über die Erweiterung der Definition von Infrastruktur im Westen immer lauter wird, gibt es einen Hoffnungsschimmer, dass diese Gesellschaften endlich die Notwendigkeit erkennen, in das Gemeinwohl zu investieren. (Diane Coyle, Übersetzung: Andreas Hubig, Copyright: Project Syndicate, 24.4.2024)