Die Flugbahn der Cassini-Sonde sieht aus wie ein komplizierter Knoten.
Die Flugroute der Raumsonde Cassini um den Saturn. Die Berechnung der Bahnen zu den Monden der Gasplaneten ist komplex.
NASA/JPL-Caltech

Wenn Raumschiffe in Science-Fiction-Filmen eine Kurve fliegen, ist das oft mit einem hörbaren Surren verbunden. In Wirklichkeit passiert so ein Manöver im All natürlich lautlos. Doch reale Weltraummissionen unterscheiden sich noch in weiteren Punkten von fantasiegetriebenen Raumfahrtdarstellungen. In Wirklichkeit fliegen Raumschiffe nämlich nur äußerst ungern aus eigener Kraft Kurven.

Der größte limitierende Faktor für Weltraummissionen ist Gewicht. Jedes Kilogramm Startgewicht kostet zehntausende Dollar. Treibstoff ist also ein kostbares Gut im Weltraum, und wenn Richtungsänderungen nötig sind, handelt es sich um penibel geplante und bis ins Letzte optimierte Manöver, hinter denen in der Regel komplizierte Mathematik steht, die selbst aktuelle Supercomputer zuweilen an ihre Grenzen bringt. Nun bringt ein abstraktes mathematisches Forschungsgebiet einen entscheidenden Fortschritt für die Suche nach der richtigen Bahn.

Theorie der Verknüpfungen

Knotentheorie gehört zum mathematischen Gebiet der Topologie. Letztere befasst sich, grob gesprochen, mit Räumen und Objekten, die zwar einen Nachbarschaftsbegriff, aber keinen Abstandsbegriff kennen. Das lässt sich am Beispiel des eigenen Wohnsitzes illustrieren: Um jemanden seinen Nachbarn zu nennen, ist es egal, ob dieser in der Wohnung nebenan wohnt oder in einem Kilometer entfernten Haus in der Einöde. Nachbarschaft bleibt Nachbarschaft. Das Fehlen eines Abstandsbegriffs ist auch zentral für U-Bahn-Pläne. Sie sind im Allgemeinen nicht maßstabsgetreu gezeichnet, weil die Entfernungen irrelevant sind. Wichtig sind die Reihenfolge der Stationen und die Umstiegsmöglichkeiten.

Im Sog von Artemis werden derzeit zahlreiche neue Weltraummissionen geplant. Treibstoffsparenden Bahnkurven um den Mond kommt künftig noch höhere Bedeutung zu.
IMAGO/NASA

Ein Gebiet der Topologie ist wie gesagt die Lehre der Knoten. Auch für die in der Knotentheorie untersuchte Frage, ob ein Knoten auflösbar ist oder wie dafür gefädelt werden muss, ist egal, wie lang die Schnur ist, aus der er geknüpft ist. Knotentheorie ist ein wunderbar abstraktes Gebiet der Mathematik, das aber nicht eben für seine Anwendungsfreundlichkeit abseits der Grundlagenmathematik bekannt ist, von einigen überraschenden Ausnahmen abgesehen. Nun gelang einem Team von der britischen Universität Surrey, die Knotentheorie äußerst gewinnbringend auf die Berechnung der Bahnen von Raumfahrzeugen anzuwenden. Davon berichtet eine neue Studie, die im Fachjournal Astrodynamics veröffentlicht wurde.

Schwierige Berechnung

Ein zentrales Problem in der Bahnberechnung im All ist die Frage, wie sich am leichtesten eine Anpassung vornehmen lässt. Es gibt dafür günstigere und weniger günstige Momente.

Die hier gesuchten Lösungen betreffen eine Form des Dreikörperproblems. Dieses einfache Physikproblem, das schon Newton bekannt war, hat die ungemütliche Eigenschaft, chaotisches Verhalten zu zeigen. Es ist für praktische Probleme wie die Raumfahrfahrt oder Astronomie nicht exakt lösbar, was aktuell in populärer Form in der Netflix-Serie 3 Body Problem erzählerisch verarbeitet wurde.

Für Raumfahrzeuge kommt das sogenannte eingeschränkte Dreikörperproblem zur Anwendung, bei dem zwei der Körper als unbeweglich angenommen werden, während der dritte um sie kreist. Im Fall eines kleinen Objekts zwischen Erde und Mond ist das eine gute Beschreibung der realen Situation.

Von besonderem Interesse sind sogenannte heteroklinische Bahnen. Sie haben einen unbezahlbaren Vorteil: Sie verbinden Punkte, in denen sich das Raumfahrzeug im Gleichgewicht befindet und in denen schon ein winziger "Schubs" aus einem kleinen Triebwerk eine völlig andere Bahn ergibt. Das Mitführen großer Spritmengen ist dann also nicht nötig, man lässt die Schwerkraft der umgebenden Himmelskörper die ganze Arbeit machen.

Die Raumsonde Cassini, hier in einer künstlerischen Darstellung, besuchte den Saturn und setzte eine Landefähre auf dessen Mond Titan ab. Auch für die Navigation zwischen den Monden der großen Gasplaneten des Sonnensystems lässt sich die neue Methode einsetzen.
IMAGO/Pond5

Müheloser Wechsel

Heteroklinische Bahnen zu nutzen ist nicht neu. Die Genesis-Mission der US-Weltraumagentur Nasa verwendete in den frühen Nullerjahren diese Technik, um zwischen den sogenannten Lagrange-Punkten L1 und L2 zu wechseln. An Letzterem befindet sich auch das James-Webb-Weltraumteleskop. Es handelt sich um kräftefreie Punkte des Systems Erde-Sonne. Obwohl die beiden Punkte sich an gegenüberliegenden Seiten der Erde befinden, brauchte die Sonde für den Transfer kaum Treibstoff.

Solche heteroklinischen Bahnen zu finden kann allerdings schwierig sein. "Ursprünglich nutzte die Nasa, wenn sie eine neue Bahn berechnen wollte, entweder rohe Computerleistung oder simples Raten", sagt Danny Owen von der Universität Surrey. Auch Künstliche Intelligenz wurde dafür bereits benutzt, doch solche Ergebnisse sind oft schwer zu interpretieren, weil die KI keinen Aufschluss darüber gibt, wie sie zu ihren Erkenntnissen gelangte.

Nun gibt es eine neue Technik. Sie macht Gebrauch davon, dass mögliche heteroklinische Kurven den Ausgangs- und Zielorbit einer Raumsonde berühren. Das erlaubte es den Forschenden des zur Universität gehörenden Surrey Space Center, die Bahnen als Knoten im mathematischen Sinn aufzufassen.

In der Knotentheorie werden geschlossene Kurven in solche unterteilt, die ineinander verhakt sind oder nicht. Kurven können, wenn sie verdreht sind, auch mehrmals ineinander verhakt sein. Der Grad der Verhakung wird über die Verknüpfungszahl angegeben. Bei Trauungen wird gern das Symbol zweier ineinander verhakter Ringe verwendet, um deren Untrennbarkeit zu zeigen, die auch aus mathematischer Sicht erwiesen ist. Die Verknüpfungszahl beträgt hier eins.

Die Bahn der Sonde Cassini um den Saturn während der gesamten Missionsdauer.
David Shortt

Zahlreiche heteroklinische Bahnen

Mithilfe des Konzepts der Verknüpfung aus der Knotentheorie gelang es den Forschenden, die Bereiche im Raum der möglichen Bahnen zu identifizieren, in denen sich die Verknüpfungszahl ändert. Das sind, grob gesprochen, die interessanten Regionen, in denen sich die Bahnen kreuzen und ein Raumfahrzeug von einer Bahn auf die andere wechseln kann, ohne übermäßig Treibstoff zu verbrauchen.

Einziger Schönheitsfehler dieser Erklärung: Das Team untersuchte nicht die Bahnen an sich, sondern ganze Bündel von Bahnen in höheren Dimensionen. Auch dort lassen sich Knoten höherer Ordnung und deren Verknüpfungszahlen untersuchen. Dass sich das schwer vorstellen lässt, macht für die Nützlichkeit des Ergebnisses zum Glück keinen Unterschied.

Die Lösungen dieser neuen Methode sind nicht völlig exakt, doch das ist auch nicht nötig. Bevor ein Raumfahrzeug auf die Reise geschickt wird, müssen ohnehin zahlreiche weitere Berechnungen durchgeführt werden. Wichtig ist bei heteroklinischen Kurven vor allem, zu wissen, dass sie existieren. Das Auffinden wird mithilfe der Technik aus Surrey nun deutlich vereinfacht. Tests an verschiedenen Systemen von Himmelskörpern, darunter Erde und Mond sowie Jupiter mit seinen Monden, verliefen erfolgreich.

Diese Diagramme zeigen mögliche Routen eines Raumfahrzeugs, die mit der neuen Technik gefunden wurden. Bei den blauen Flächen handelt es sich um Sammlungen sogenannter Lissajous-Orbits, die oft für Raumfahrzeuge gewählt werden, die sich um die Lagrange-Punkte bewegen (was das ist, wird im Haupttext erklärt). Auch das Webb-Teleskop befindet sich in einem solchen Orbit um den Lagrange-Punkt L2.
Surrey Space Centre

"Angetrieben vom Artemis-Programm der Nasa, inspiriert das neue Rennen zum Mond Fachleute aus aller Welt dazu, treibstoffeffiziente Routen zu erforschen, mit denen sich die Umgebung des Mondes besser und effizienter untersuchen lässt", sagt Nicola Baresi von der Universität Surrey. "Unsere Technik macht nicht nur diese mühsame Aufgabe weniger kompliziert, sie lässt sich auch auf andere Planetensysteme oder die Eismonde von Saturn und Jupiter anwenden."

Künftige Raumsonden werden also noch häufiger mühelos von einem Punkt zum anderen schweben. (Reinhard Kleindl, 25.4.2024)