Für Boris Johnsons Regierung war es eine Art demokratiepolitisches Musterprojekt – ein 2022 in Kraft getretenes Gesetz sollte künftig Wahlbetrug verhindern, auch wenn es zuvor bereits wenig Anzeichen für Betrügereien gegeben hatte. Wer seither an britischen Wahlen teilnehmen will, muss einen von 22 möglichen Ausweisen mitnehmen, um seine Identität zu belegen. Zuvor hatte es in Großbritannien, das keine klassische Meldepflicht hat, eine solche Verpflichtung nicht gegeben. Johnson hatte sich damals als "leidenschaftlichen Anwalt der Demokratie" bezeichnet, die man allerdings vor Angriffen schützen müsse.

Boris Johnson jüngst beim Covid-Untersuchungsausschuss. Er ist trotz Haube erkennbar, zur Stimmabgabe bei der Wahl braucht dennoch auch er ein Dokument mit Foto.
IMAGO/Tayfun Salci

Nun hat er in dieser Leidenschaft einen Rückschlag erlitten. Denn Johnson selbst wurde bei seinem Versuch, an den britischen Kommunalwahlen teilzunehmen, abgewiesen: Er hatte seinen Ausweis vergessen. Darauf, dass es zu solchen Fällen kommen könnte, hatten vor der Einführung der neuen Regeln viele Demokratieaktivisten verwiesen. Vor allem ältere Wählerinnen und Wähler seien es oft gewohnt, ohne Bilddokument an die Urnen zu schreiten. Der Konservative Abgeordnete Jacob Rees-Mogg fand dazu bereits 2023 bei einer Parteikonferenz recht offene Worte: Man habe die neuen Wahlregeln damals als "cleveren Mechanismus" eingeführt, damit aber vor allem der eigenen Partei geschadet, befand er: Denn jene, die nun ihre Ausweise vergessen würden, seien "im Wesentlichen Anhänger der Konservativen" gewesen.

Wenige Probleme

Johnson, 59, konnte seine Stimme am Ende doch noch abgeben, wie es aus seinem Beraterstab hieß. Der Ex-Premier ging noch einmal nach Hause und kam dann mit einem gültigen Ausweis zur Wahl. Insgesamt vermeldete laut dem Guardian die Wahlkommission keine größeren Probleme mit dem System, das heuer zum zweiten Mal, nach Lokalwahlen im Vorjahr, zum Einsatz kam. Die Kampagnen zur Bewusstseinsbildung, die es vor der Wahl gegeben habe, hätten vielen Problemen vorgebeugt, sagte der Chef der Wahlkommission Vijay Rangarajan dem Blatt. Die allermeisten Wählerinnen und Wähler hätten Ausweise dabeigehabt, einige seien nach Hause gegangen, um ihre Ausweise nachzuliefern. Eine endgültige Analyse werde es nach der Wahl geben. Vor dem Urnengang war vermutet worden, dass rund ein Viertelprozent aller Wählerinnen und Wähler abgewiesen werden würde, vier weitere Prozent gaben laut Guardian in einer Befragung an, sie würden wegen der neuen Vorgaben nicht zur Wahl gehen.

Ob auch der regierende Premier Rishi Sunak bei seiner Stimmabgabe auf Probleme gestoßen ist, bleibt derweil ein Mysterium. Denn Sprecher seiner Konservativen Partei haben sich bisher geweigert, Details zur Stimmabgabe des Regierungschefs zu nennen. Sie bestätigten nur, dass Sunak gewählt habe – auf Nachfragen, wann und wo dies stattgefunden habe, reagierten sie mit der schlussendlich unerfüllten Ankündigung, zu einem späteren Zeitpunkt Details bekanntzugeben. Spekuliert wird in britischen Medien damit, dass Sunak keine wichtigen Parteifreunde enttäuschen wollte.

Geheimwahl des Premiers

Denn der Premier hätte die Wahl gehabt, an zwei verschiedenen Orten zu wählen: entweder in London, wo er in 10 Downing Street wohnhaft ist, oder in seinem Wahlkreis in North Yorkshire. Sunak musste seine Stimmen also entweder der konservativen Kandidatin für das Londoner Bürgermeisteramt Susan Hall oder dem früheren Chefredakteur des Daily Star Keane Duncan versagen müssen, der in North Yorkshire kandidiert. Duncan war 2022 für die Kampagne der Zeitung verantwortlich, in der in einem Livestream ein Salatkopf gefilmt wurde, der länger hielt als die Amtszeit der damaligen Premierministerin Liz Truss.

Für einiges Aufsehen sorgte indes ein Kandidat namens Karl Marx, der in Stockport nahe Manchester für die Labour-Partei in den Stadtrat gewählt wurde. Karl Peter Marx Wardlaw hatte schon 2019 dort für die Grünen kandidiert, war damals aber gescheitert. Stockport hatte im 19. Jahrhundert als eines der Zentren der Industrialisierung in der Region um Manchester gegolten, konkret spezialisierte man sich auf die Hutmacherei. Auch Friedrich Engels hat dort Zeit verbracht, er nannte es "eines der düstersten, rauchigsten Löcher in der ganzen Industrieregion". Die "Arbeiterslums" dort waren aber auch in den 1960er-Jahren, als die Zeit der Hutmacherei zu Ende ging, noch für ihren schlechten Zustand bekannt. Später wurden sie zwangsweise geräumt, Stockport gilt aber noch immer im Vergleich zu anderen Gemeinden als relativ verarmt. (mesc, 3.5.2024)