Tundraebene mit Seen
Die arktische Tundra, wie hier in den Nordwestterritorien in Kanada, ist eine enorm wichtige Kohlenstoffsenke. Mit dem Klimawandel wird sie zusehends zur Kohlenstoffquelle.
IMAGO/Thomas Kitchin & Victoria

Die Permafrostgebiete in den Tundren der Nordhalbkugel sind enorme Speicher für Kohlenstoff – in ihnen schlummert in etwa doppelt so viel wie in der Atmosphäre. Sie gelten daher als essenzieller Kipppunkt im komplexen Klimasystem der Erde. Denn werden die Böden im Norden und auch in Gebirgslagen wärmer, erhöht sich darin die Kleinstlebewesen-Aktivität. Das führt dazu, dass mehr gebundener Kohlenstoff in die Atmosphäre entweichen und den Temperaturanstieg weiter anheizen kann.

Wie stark dieser oft als eines der größten Fragezeichen in Klimaprognosen bezeichnete Effekt aber ausfällt, ist offen. Ein Forschungsteam mit Beteiligung der Universität Innsbruck lieferte kürzlich Antworten darauf in einer im Fachblatt Nature veröffentlichten Studie: Schon ein kleines Temperaturplus zeigt ordentlich Wirkung.

In die umfassende Untersuchung gingen die Daten von insgesamt 28 Standorten in Tundragebieten in der Arktis und anderen nördlichen Gebieten, sowie in sehr hohen Lagen wie der tibetanischen Hochebene ein. "Tauen die Böden auf, verstärkt sich die Atmung dieses Ökosystems, da Mikroorganismen beginnen, das Material zu zersetzen. Dabei entstehen Treibhausgase wie Kohlendioxid, aber auch Methan und Lachgas. Dieser Effekt führt zu einer Art Teufelskreis, da die Treibhausgase die Erderwärmung antreiben und diese wiederum die Permafrostböden vermehrt belasten", sagt Christina Biasi vom Institut für Ökologie der Uni Innsbruck. Die Forscherin ist mit ihren jahrelangen Messungen in Russland an der Publikation beteiligt.

30 Prozent mehr Ausgasung

Ein Team von insgesamt 70 Forschenden nutzte sogenannte Open-Top-Kammern (OTCs), um die Auswirkungen der Erwärmung auf der ganzen Welt über die Jahre hinweg experimentell zu simulieren. OTCs sind im Prinzip Mini-Gewächshäuser, die den Wind ab- und die Wärme einfangen, was zu einer lokalen Erwärmung führt. Gleichzeitig wird gemessen, wie viel Kohlenstoff dabei entweicht. Die gewonnenen Daten tragen nun dazu bei, dass die Wissenschafterinnen und Wissenschafter annehmen, dass das Problem größer sein könnte als bisher erhofft.

Forscherin in der Tundra mit Messgeräten
Die Ökologin Christina Biasi von der Uni Innsbruck führte jahrelange Messreihen in der sibirischen Tundra durch.
Christina Biasi

Die Erwärmungsexperimente an verschiedenen Orten brachten im Schnitt einen Lufttemperaturanstieg um 1,4 Grad Celsius, was wiederum die Bodentemperatur um rund 0,4 Grad erhöhte und die Bodenfeuchtigkeit um 1,6 Prozent reduzierte, heißt es vonseiten der Universität Umeå, wo die Hauptautorin der Studie, Sybryn Maes, forscht. Schon diese relativ kleine Veränderung steigerte die Ökosystem-Atmung während der Periode, in der in diesen Weltregionen die Pflanzen wachsen, um durchschnittlich 30 Prozent. Da manche der Messungen ganze 25 Jahre umfassten, könne man für einige Orte festhalten, dass diese Veränderungen auch über derart lange Zeiträume – und vermutlich noch länger – nachwirken, was in früheren Studien nicht der Fall war.

Anstieg viermal höher als gedacht

"Meine Ergebnisse und auch jene meiner Kolleginnen und Kollegen zeigen sehr starke Ausgasungsraten, und zwar noch stärkere, als wir bisher in Modellen angenommen haben", sagt Biasi. Bereits auf Basis von früheren Untersuchungen war klar, "dass wir mit der Erwärmung wahrscheinlich einen Anstieg der Atmung feststellen würden. Wir fanden nun aber einen bemerkenswerten Anstieg – fast viermal größer als bisher geschätzt", fasst Sybryn Maes. Allerdings gebe es regionale Unterschiede, was vor allem vom dort verfügbaren Stickstoff oder dem pH-Wert der Böden abhängt.

Als Regionen, in denen mit größeren Steigerungen zu rechnen ist, wurden Teile Sibiriens und Kanadas identifiziert. Weniger stark dürften zum Beispiel die Tundraböden in Hochasien reagieren, heißt es in der Arbeit. Aber: "Wir erwarten eine Zunahme der Atmung in der kompletten arktischen und alpinen Tundra", so Matti Kummu von der Aalto University (Finnland). Um das aber noch regional feiner herunterzubrechen, brauche es noch mehr Messdaten. Insgesamt könnten die neuen Erkenntnisse dazu führen, dass die großen Modelle zur Erderwärmung verbessert werden, halten die Studienautoren fest.

"Zu verstehen, wie sich Ökosysteme als Reaktion auf den Klimawandel verändern und wie sich diese Veränderungen auf das Klima auswirken, ist von entscheidender Bedeutung, um ein genaues Bild davon zu erhalten, wie sich unsere Welt verändern wird", sagt Christina Biasi. "Permafrostböden gelten oft als tickende Zeitbomben, dennoch ist es noch nicht zu spät: Wir haben die Kipppunkte in diesen Systemen noch nicht erreicht, und jedes Zehntelgrad weniger Erwärmung dämmt die Auswirkungen auf unser Klima ein." (kri, APA, 3.5.2024)